Rede zu direkter Demokratie im Grundsatzprogramm von BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN 2020

Liebe Freundinnen und Freunde,

ich kann mich noch sehr gut an eine meiner ersten Berührungen mit der Demokratie erinnern: Ich war etwa 14 Jahre alt und hatte mit Mitschüler*innen eine Petition an den Landtag von Schleswig-Holstein geschrieben – damit das Wahlalter auf 16 abgesenkt wird. Wir wurden dann auch zu einer Anhörung eingeladen, fuhren nach Kiel, nur damit uns lange und breit alle Fraktionen – außer den GRÜNEN – erklären konnten, warum das auf gar keinen Fall geht. Wir waren frustriert.

Heute stehen wir hier wieder an dem Punkt, an dem wir uns fragen, wie wir „die Demokratie stärken“ können – so ist dieses Kapitel 5 des Programmentwurfs jetzt betitelt ist: Mit mehr Beteiligung oder mehr demokratischer Mitbestimmung? Ich kann euch aus persönlicher Erfahrung sagen: Mit Beteiligung, die zu nichts führt – wie einst unserer Petition – fördern wir nur noch mehr Politikverdruss und treiben die Menschen weiter weg von der Demokratie.

Die Einführung und der Ausbau von Elementen der direkten Demokratie – auf allen politischen Ebenen – war immer Haltung und Beschlusslage unserer Partei; im aktuellen Grundsatzprogramm, unseren letzten Wahlprogrammen usw.

Im Entwurf steht nun lediglich, dass wir „direkte Beteiligungsmöglichkeiten“ schätzen. Ich habe selbst ein Impulspapier zum Aufbruch in eine „partizipativere“ Demokratie geschrieben und war glücklich, dass unser Vorschlag, Bürger*innenräten als Beteiligungsformate zu nutzen, auch im Grundsatzprogramm aufgenommen wurde. Aber schon dort haben wir klar gesagt: Der Ausbau von Bürger*innenbeteiligung kann nicht direkte Demokratie ersetzen. Und es ist nicht dasselbe. Bürger*innenräte sind rein beratende Gremien.

Wenn wir hier unser Kapitel mit „Demokratie stärken“ titulieren, aber damit eigentlich nur die repräsentative Demokratie meinen, dann beschreibt das nur einen Bruchteil der Demokratie. Über 70% der Menschen wünschen sich mehr in politische Entscheidungsprozesse eingebunden zu werden. Ein bundesweiter Bürgerrat kam 2019 selbst zu der Empfehlung, auf Bundesebene sollten Volksbegehren und Volksentscheide einführt werden. Das kann uns nicht egal sein.

Ich selbst bin als sehr großer Skeptiker direkter Demokratie Mitglied bei den GRÜNEN geworden. Heute glaube ich, wir brauchen sie.
Wir können es uns schlicht nicht erlauben zu sagen, wir trauen den Menschen nicht zu, politische Entscheidungen selbst zu treffen und sie seien anfälliger für Populismus und Manipulation. Im Bundestag, in den Landtagen, in den Kommunalparlamenten sehen viele von euch täglich, dass repräsentative Systeme genauso anfällig für Lobbyismus oder Populismus sind. Und dieser Populismus ist hartnäckig und sitzt dann vier, fünf Jahre in den Parlamenten und hetzt wie die AfD von rechts.

Ich höre oft, in Volksinitiativen und Volksentscheiden würden schreckliche Dinge wie der Brexit passieren würden – der selbst das schlechteste Beispiel für direkte Demokratie ist. Aber schauen wir doch mal in die eigenen Bundesländer: Von 150 Volksbegehren in den letzten zehn Jahren wurden ganze 8 (!) von der AfD oder anderen rechtspopulistischen Initiativen initiiert – kein einziges davon wurde zugelassen. Die meisten haben nicht die notwendigen Unterschriften zusammenbekommen. Und wir haben starke Verwaltungs- und Verfassungsgerichte, die dafür sorgen, dass keine Entscheidungen getroffen werden, die Minderheiten diskriminieren oder Grundrechte beschränken.

Stattdessen gab es in den letzten Jahren in den Ländern dutzende erfolgreiche Volksbegehren zu ökologischen Themen wie Arten- oder Klimaschutz, Radentscheide, Flächenversiegelung und vielem mehr. In den Ländern haben wir mit der Zivilgesellschaft, Umweltverbänden usw. durch Volksbegehren für eine bessere Welt gekämpft und viel erreicht; z.B. zum Artenschutz in Bayern, BaWü, Hessen usw. Die abstrakte Angst vor rein rechtspopulistischen Inhalten ist ein Strohfeuer.

Und grundsätzlich müssen wir trennen: Zwischen Inhalt von Demokratie – was könnte dabei rauskommen? – und Form – was für eine Demokratie wollen wir haben?. Demokratie ist mehr als nur vier Jahre lang ein Kreuzchen zu machen und politisches Spitzenpersonal zu bestimmen. Sie ist Deliberation, Diskurs, fairer Wettstreit um die beste Idee: Das alles können auch Volksbegehren und Volksentscheide liefern. Die GRÜNEN waren für mich immer der Inbegriff einer Partei, die eine aktive, kritische und demokratische Zivilgesellschaft fördern wollen. Ja, wir selbst kommen aus diesen Bewegungen.

Wenn jetzt hier später zu Paragraf 248 daher darum abgestimmt wird, ob wir die direkte Demokratie wieder explizit ins Grundsatzprogramm aufnehmen sollten, bitte ich euch für den Antrag von Lukas Beckmann und den Antrag der BAG Demokratie und Recht zu stimmen. Danke!

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