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Deliberative Welle oder Sturm im Wasserglas? Wie wir mit mehr Beteiligung die repräsentative Demokratie nachhaltig stärken

Aktuell wird wieder viel über die demokratischen Institutionen in Deutschland diskutiert. Noch im vergangenen Jahr hat die parlamentarische Demokratie gezeigt, was sie leisten kann: Trotz völlig neuer Situation einer Pandemie hat der Bundestag Handlungsfähigkeit bewiesen und beispielsweise so schnell wie noch niemals zuvor Rettungspakete und ein Konjunkturprogramm in Höhe von fast zwei Jahreshaushalten beschlossen [1]. Erst kam die „Bazooka“, dann der „Wumms“, inzwischen ist beides ziemlich verpufft.

Denn die Situation sich inzwischen ins exakte Gegenteil gewendet: Den Impfstart vermasselt, die Digitalisierung von Schulen und Co. funktioniert nicht und Uneinigkeit herrscht in der „Ministerpräsidentenkonferenz“ – einem fingierten Organ, das irgendwie notwendig ist aber irgendwie auch nicht den Bundesrat ersetzen sollte. Und schon gar nicht die Beteiligung des Parlaments.
Zu allem Überfluss kommt dann noch eine Maskenaffäre dazu, die das Vertrauen in Politik erschüttert und die Erzählung einer realitätsfremden „politischen Elite“ nährt. So wird ein strukturelles Problem der Union zu einer Krise der Demokratie. „Gift für die Demokratie“, wie Bundespräsident Steinmeier angemerkt hat. [2]

Die Schere zwischen politischem Handeln und politischer Nachfrage wächst

Das mit der Vertrauenskrise in „die Politik“ ist so eine Sache. Schaut man sich aktuelle Daten an, sind immer noch weit über die Hälfte der Deutschen zufrieden mit der Demokratie, das Vertrauen bröckelt jedoch enorm, wenn man das Vertrauen in Parteien oder politische Akteure abfragt. [3]
Gleichzeitig steht Politik unter enormem Erwartungsdruck – in einer globalisierten Welt, in der Handelsströme und transnationale Konzerne bisweilen mehr Einfluss haben als nationale Politik und Populist*innen die Stimmung von rechts anheizen.
Wie erzeugen wir da wieder einen demokratischen Konsens, Vertrauen in die Demokratie und den Parlamentarismus?

Die Erwartungshaltung der Menschen ist klar: 70% glauben laut einer Befragung, dass mehr Beteiligung die Demokratie verbessern würde.[4] Wen wundert’s? Die Schere zwischen dem Willen der Bevölkerung und dem, was die Bundesregierung in den letzten vier Jahren gemacht hat, ist einfach zu groß geworden.
Wen wundert’s, wenn jeden Freitag Millionen Kids auf die Straße gehen, um für mehr Klimaschutz zu demonstrieren, aber die Bundesregierung erst 2038 aus der Kohleverstromung aussteigen will? Oder bei steigender Alters- und Kinderarmut nicht genug passiert? Keine Kindergrundsicherung, keine Reform der ALG II Sätze, kein höherer Mindestlohn usw…

Beteiligungskultur auf Bundesebene: mangelhaft

Das Schöne an Demokratie ist ja, dass sie kein starres Konstrukt ist. Sie verändert und verbessert sich. Demokratie ist kein Selbstzweck. Sie legitimiert sich als System ganz primär dadurch, dass sie Probleme aus allen Teilen der Bevölkerung aufsaugt und – in der parlamentarischen Demokratie – ins Parlament transportiert. Politikwissenschaft nennt das ganz technisch „Input-Legitimation“ [4].

Was Bürger*innenbeteiligung betrifft, gibt es auf Bundesebene aber noch einiges an Luft. So ergab eine Anfrage der GRÜNEN Bundestagsfraktion, dass es richtige Bürger*innenbeteiligung eigentlich nur im Bereich des Bundesumweltministeriums mit gerade mal 11 Verfahren zwischen 2010-2019 gab sowie im Geschäftsbereich der Bundesverkehrsministeriums (z.B. bei der Öffentlichkeitsbeteiligung von Bau- und Infrastrukturprojekten). [5]

Gleichzeitig hat sich die Regierung aber darauf verpflichtet, im Zug der internationalen „Open Goverment Partnership“ stärker das Wissen und die Erfahrungen der Bürger*innen mit einbeziehen zu wollen.[6] Und eig. sollte es laut Koalitionsvertrag eine „Expertenkommission“ geben, die sich Gedanken darüber macht „ob und in welcher Form unsere bewährte parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie ergänzt werden kann“.[7] Was ist passiert? Quasi nichts.

Die Deliberative Welle rollt – Deutschland plätschert vor sich hin

Dabei haben sowohl die Kommunen als auch Bundesländer und andere Staaten gute Erfahrungen mit mehr Beteiligungskultur gemacht.

International haben vor allem die Bürger*innenräte in Irland zu schwierigen und durchaus kontroversen Fragen wie Schwangerschaftsbbrüchen und gleichgeschlechtlicher Ehe gezeigt, dass sie zur Konsensbildung beitragen und durchaus progressiv sein können. Die „Citizen Assemblies“ in Irland durften Referenden vorbereiten, die dazu geführt haben, dass dann mit einer Mehrheit die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen sowie die Ehe für alle eingeführt wurde. Und das im strukturkonservativen, katholischen Irland!
Auch Klimabürger*innenräte in Frankreich, Großbritannien usw. haben ambitionierte Vorschläge für den Klimaschutz vorgelegt. Eine Fachcommunity spricht sogar von einer „deliberativen“ Welle, die derzeit weltweit die Politik prägt. [8]

Und auch die Länder und Kommunen in Deutschland haben mehr zu bieten: Baden-Württemberg hat gute Erfahrungen damit gemacht, Bürger*innenbeteiligung als Gewinn für die Demokratie zu sehen. 2011 hat man nach dem Regierungswechsel zur grüngeführten Landesregierung daher die „Politik des Gehörtwerdens“ implementiert und eine Staatsrätin samt Stabsstelle geschaffen. Vom Nationalpark Nordschwarzwald, über Flüchtlingsdialoge bis hin zu einem Bürgerforum zur Frage von Alterspensionen bei Abgeordneten: Baden-Württemberg hat mit seiner Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung gezeigt, dass man Beteiligung ausbauen und umsetzen kann. Und vor allem, dass man damit Politik bereichert und nicht die Parlamente schwächt.

Auf Bundesebene hat ein zivilgesellschaftliches Bündnis um den Verein Mehr Demokratie letztendlich selbst das Heft in die Hand genommen: Erst wurde 2019 der „Bürgerrat“ Demokratie abgeschlossen, im März 2021 nun der erste vom Bundestag mitinitiierte Bürgerrat „Deutschlands Rolle in der Welt“.

Mit Bürger*innenräten die Beteiligungskultur stärken

Was brauchen wir jetzt, um eine Politik des Gehörtwerdens auch in Berlin umzusetzen? Schon letztes Jahr haben wir dazu Impulse für das grüne Grundsatzprogramm gegeben. Nun hat die GRÜNE Bundestagsfraktion als erste Fraktion überhaupt konkrete Vorschläge vorgelegt [9].

Wir wollen Bürger*innenräte auf Bundesebene gesetzlich verankern und zu einem Beteiligungsstandard machen. Dazu braucht es spätestens zum Anfang der nächsten Wahlperiode ein Beteiligungsgesetz.

Dieses Beteiligungsgesetz muss rechtlich festlegen,
a) wer einen bundesweiten Bürger*innenrat einberufen kann. Das sollte für die Bundesregierung, den Bundestag aber ebenso die Bevölkerung gelten. Gerade bei letzterem Verfahren ist z.B. zu klären, ab welchem Quorum bzw. wie vielen Unterschriften aus der Bevölkerung ein solcher Rat eingerichtet wird. Wie bei Volksbegehren schwanken hier die Quoren von 2% bis 10% der Wahlberechtigten;
b) wer an einem Bürger*innenrat teilnehmen kann. Ein Bürger*innenrat sollte näherungsweise immer die Bevölkerung abbilden, d.h. z.B. die Staatsbürgerschaft sollte kein Faktor sein, ebenso wie eine Teilnahme nicht an die Volljährigkeit geknüpft sein sollte. Knapp ein Viertel der in Deutschland lebenden Menschen sind nun mal nicht wahlberechtigt;
c) „wie funktioniert das Losverfahren?“ Inzwischen ist es gute Praxis, zufallsgeloste Bürger*innengremien in einer „geschichteten Zufallsstichprobe“ zu ziehen. Damit soll verhindert werden, dass überproportional viele Vertreter*innen spezifischer Personengruppen gelost werden. Denn viele Beteiligungsverfahren zeigen, dass z.B. überproportional oft Menschen mit höheren akademischen Abschlüssen teilnehmen, jedoch disproportional wenig Menschen mit einem Migrationshintergrund Einladungen folgen usw.. Entsprechend muss sich ein Bürger*innenrat an ein Zufallstichprobe orientieren, die anhand von gewählten demografischen oder sozioökonomischen Maßstäben gewichtet wird. Haben wir genug junge Leute, weibliche Teilnehmerinnen, Personen mit verschiedenen Bildungshintergründen, kulturellen oder multiethnischen Hintergründen etc.?
Denn wenn auch Bürger*innenräte in ihrer Vielfalt nicht ansatzweise die Bevölkerung abbilden, stellt sich wieder die Legitimationsfrage (s.o.).

Klar muss zudem sein, welche Verbindlichkeit die Empfehlungen von Bürger*innenräten haben und was die Politik damit macht. Schließlich sind diese immer zunächst nur beratend für die Politik!
Die Idee ist, hierfür ein „Büro für Beteiligung“ beim Bundestag zu schaffen, das autonom arbeiten und Wirkungsgutachten zur Umsetzung erstellen kann. Diese werden dann – z.B. 100 Tage nach dem Abschluss eines Bürger*innenrats – vorgelegt. Ähnlich funktioniert dies beispielsweise schon mit Gutachten über das „Büro für Technikfolgenabschätzung“ beim Deutschen Bundestag.

Beteiligung in der Breite der Gesellschaft verbessern: Jugend, Klimaschutz, Online-Beteiligung…

Grundsätzlich müssen wir aber auch Beteiligung in der gesellschaftlichen Breite verbessern. Mehrere Studien zeigen z.B., dass sich die Jugend mehr Gehör in der Politik wünscht [10] und insgesamt sogar stärker politisch interessiert und engagiert als früher.[11]
Es sollte daher einen Jugendrat für die Stimme junger Menschen geben, der die Bundesregierung – und insbesondere das Jugendministerium – z.B. in Fragen von Generationengerechtigkeit berät. Gerade die Corona-Krise hat ja gezeigt: Alle reden über Familien, die Öffnung von Schulen und die Situation von Kindern – aber die Politik konsultiert junge Menschen nie selbst. Das ist schade.

Ebenso niedrigschwellig wäre es die Online-Beteiligung auszubauen und ein Online-Beteiligungsportal etwa nach dem Vorbild von Baden-Württemberg oder Sachsen zu schaffen, auf dem künftig z.B. Gesetzentwürfe zur Kommentierung durch die Bevölkerung eingestellt werden.

Auch eine Bürger*innenbeteiligung beim Klimaschutzgesetz, wie sie ursprünglich einmal vorgesehen war, würde wieder neuen Schwung in die Debatte um ambitionierten Klimaschutz bringen. Hier engagiert sich bereits ein erstes Bündnis um die Einrichtung eines Klima-Bürger*innenrats noch vor der Bundestagswahl.

Und es braucht – wie in Baden-Württemberg mit Gisela Erler – eine zentrale und verantwortliche Person in der Regierung, die sich um Bürger*innenbeteiligung, Engagement, Demokratie und die Zivilgesellschaft kümmert und die Themen vorantreibt. „Demokratieministerin“ Giffey ist damit die letzten Jahre zumindest gescheitert.

Ausblick: Deliberative Welle oder Sturm im Wasserglas?

Was genau davon umgesetzt werden kann, wird sich zeigen. Klar ist, Deutschland hat im Bund ein Defizit, was eine bürgernahe Beteiligungskultur betrifft. Die Antwort auf die Krise der Demokratie ist mehr Nähe und mehr Beteiligung der Bürger*innen und nicht der Rückzug.

Ob Deutschland also nach der Bundestagswahl hier vorankommt, hängt auch ganz massiv von den politischen Mitbewerbern und vor allem dem (Un-)Willen der Union für mehr Beteiligungskultur ab. GRÜNE stehen auf jeden Fall bereit, die Politik des Gehörtwerdens auch nach Berlin zu tragen.

Quellen:

[1] https://www.tagesspiegel.de/politik/patient-wirtschaft-erst-die-bazooka-dann-der-wumms-reichten-die-corona-hilfen/26141752.html
[2] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-03/bundespraesident-frank-walter-steinmeier-maskenaffaere-union-demokratie?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F
[3] vgl. Eurobarometer 92.3 (Nov/Dez. 2019) & 93.1
[4] siehe https://www.buergerrat.de/buergerrat-demokratie/dokumentation/umfrage/
[5] vgl.  Fritz W. Scharpf (1999): Regieren in Europa: Effektiv und demokratisch?
[6] vgl. Kleine Anfrage der Fraktion BÜNDNIS90/Die GRÜNEN mit der Antwort auf Drucksache 19/7972: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/079/1907972.pdf
[7] https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/open-government-partnership-1666812
[8] https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/847984/5b8bc23590d4cb2892b31c987ad672b7/2018-03-14-koalitionsvertrag-data.pdf?download=1, S. 163
[9] siehe https://www.oecd.org/gov/innovative-citizen-participation-and-new-democratic-institutions-339306da-en.htm
[10] siehe https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/278/1927879.pdf
[11] vgl. die Ergebnisse des bundesweiten Jugendhearings u_count (https://www.dkjs.de/fileadmin/Redaktion/Dokumente/programme/200609_u_count_Abschlussbericht_web.pdf)
[11] siehe hierzu u.a. die Ergebnisse der letzten Shell Jugendstudie: https://www.shell.de/ueber-uns/shell-jugendstudie/_jcr_content/par/toptasks.stream/1570708341213/4a002dff58a7a9540cb9e83ee0a37a0ed8a0fd55/shell-youth-study-summary-2019-de.pdf

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