Man stelle sich das mal vor: Man wacht morgens in einer Welt auf, in der Klimaschutz und der Erhalt der Artenvielfalt explizit in der Verfassung stehen. „Ökozid“ ist eine Straftat, die meisten Innenstädte sind autofrei und ein Tempolimit von 110 km/h gilt auf allen Straßen. Wohngebäude müssen – sozialverträglich – bis 2040 energetisch saniert werden. Ganz schön krasse Vorstellung. Das ist nur die Spinnerei von „ein paar Ökos?“ Weit gefehlt! All das sind alle Vorschläge, die in Frankreich ein Gremium aus 150 per Zufall ausgelosten Bürger*innen im Sommer 2020 dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron vorgelegt hat. Der französische Bürger*innenrat zum Klimaschutz („Convention Citoyenne pour le Climat“) wurde von Präsident Macron ein Jahr zuvor beauftragt, Vorschläge aus der Mitte der Gesellschaft zu erarbeiten, um das französische Klimaschutzziel (40% CO2-Reduktion bis 2030) noch erreichen zu können.[1]
Daraufhin wurden 150 Bürger*innen aus öffentlichen Telefonnummern ausgelost, um über mehrere Monate konkrete politische Empfehlungen auszuarbeiten. Einige davon wurden genannt. Mehrere davon, z.B. zur Verfassungsänderung, werden nun zur Parlamentsabstimmung bzw. nationalen Referendum vorgeschlagen.[2] Wichtig bei geloster Bürgerbeteiligung: Das „Los“ muss auch wirklich dafür sorgen, dass die Bevölkerung abgebildet wird. Oft genug sind Zeit, Familie, vielleicht ein pflegebedürftiger Angehöriger, ein Ehrenamt, anfallende Kosten oder die Sprachbarriere „abschreckend“, um sich wirklich angesprochen zu fühlen. Entsprechend wurde z.B. auch bei der Zusammensetzung des französischen Klima-Bürger*innenrates eine „geschichtete“ Zufallsauswahl angewendet. Heißt: Es wurde konkret darauf geachtet, dass der Rat in wesentlichen Merkmalen auch ein Abbild der französischen Gesellschaft darstellt – z.B. was Geschlecht, Alter, Berufsgruppen und vieles mehr betrifft.[3]
Eine „urdemokratische“ Idee in die Moderne übersetzt
Doch wie kam es überhaupt dazu? Mit Bürgerversammlungen hat Frankreich natürlich so seine revolutionären Erfahrungen in eigener Historie gesammelt. Wirklich in die Neuzeit übersetzt hat das Beteiligungsformat der „Räte“ jedoch Irland: 2012 wurde hier erstmals zusammen mit zufallsgelosten Bürger*innen an verschiedenen Verfassungsfragen gearbeitet, die u.a. in einem Referendum über die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe mündeten. Das für das konservative Irland erstaunliche Ergebnis: Über 60% stimmten 2015 für die Einführung der „Ehe für alle“.[4] Kurze Zeit später wiederholte sich die Geschichte als es um das gesellschaftlich kontroverse Thema Abtreibungen ging. Die irische Erfahrung hat also gezeigt, das Bürger*innenräte zu durchaus erstaunlichen und vor allem auch erstaunlich progressiven Ideen führen können.
Inspiriert durch die „irische Renaissance“ wurde 2015 schließlich auch ein landesweiter Bürgerrat in Deutschland initiiert – angeregt und umgesetzt vom Verein „Mehr Demokratie“ und der gemeinnützigen Schöpflin Stiftung. Der Input musste also erstmal aus der Mitte der Gesellschaft kommen. Auch hier trafen sich an mehreren Wochenende 160 zufallsgeloste Bürger*innen aus ganz Deutschland, um Vorschläge für die „Ergänzung und Verbesserung der Demokratie“ zu erarbeiten.[5]
Ende 2019 legte der Bürgerrat Demokratie schließlich Bundestagspräsident Schäuble ein Gutachten mit vielen konkreten Empfehlungen für eine lebendigere Demokratie vor, neben der Einführung von Volksbegehren und -entscheiden auf Bundesebene, einem Online-Beteiligungsportal für die Gesetzgebung oder mehr Transparenz im Bundestag auch einer sehr naheliegenden Forderung: Bundesweite Bürger*innenräte sollen auch künftig zur Diskussion und Lösung politisch strittiger Fragen eingesetzt werden können.[6] Anfang 2021 wird unter Schirmherrschaft des Bundestagspräsidenten nun ein weiterer bundesweiter Bundesrat tagen und sich mit „Deutschlands Rolle in der Welt“ auseinandersetzen.
Mit einem Klimabürger*innenrat die Demokratie stärken
Letztendlich würde ein Klimabürgerrat damit ein Bedürfnis aufgreifen, das gesellschaftlich tief verwurzelt ist: 70% der Deutschen wünschen sich mehr Einbindung in politische Prozesse, mehr als 50% halten Bürgerräte dabei für ein geeignetes Instrument.[7][8] Die Klimaschutzpolitik – oder sagen wir besser die Klimatrotzpolitik – der Bundesregierung erscheint mit der geeignetste Gegenstand, um mit einem Bürgerrat endlich ein bundesweites Bürger*innenbeteiligungsverfahren zu erproben. Beispiel Kohleausstieg: Die sog. „Kohlekommission“ war der große Versuch der GroKo, einen gesellschaftlichen Konsens zum Ausstieg aus der Kohleverstromung zu finden.[9] Stattdessen ist dabei ein „Kohlekompromiss“ entstanden, der den endgültigen Ausstieg erst 2038 vorsieht – während in der Bevölkerung 73% für einen Kohleausstieg „so schnell wie möglich“ plädieren. [10] Das passt nicht zusammen.
Wenn Anspruch und Realität soweit auseinanderklaffen und der offenkundige Wille der Bevölkerung sich nicht in der Regierungspolitik widerspiegelt, müssen wir den Dialog suchen. Die weltweiten Klimaproteste – nicht zuletzt von Fridays for Future – und die Wahlerergebnisse z.B. zuletzt in NRW zeigen: Die junge Generation will einen Wandel und Wechsel in der Politik, die die Klimakrise unmissverständlich in den Fokus ihres Handelns stellt. Damit verbunden plädiere ich für die Einführung eines bundesweiten Klimabürgerrats.
Was muss ein Klimabürger*innenrat können?
Damit ein Bürgerrat gelingt, muss er einige wichtige Fragen aufgreifen und sinnvoll ausgestaltet sein.
Erstens muss er – wie gesagt – ein repräsentatives Abbild der Gesellschaft sein, damit er Legitimität ausstrahlt. Dazu muss nicht nur darauf geachtet werden, dass Vielfalt abgebildet wird, z.B. durch genanntes geschichtetes Zufallsverfahren, es muss auch allen eine Teilnahme ermöglicht werden (Stichwort „Empowerment“). Deswegen muss es Angebote zur Kinderbetreuung geben, eine Kompensation von Kosten, ggf. eine Übersetzung oder Gebärdendolmetschung sowie weitere inklusive Angebote.
Zweitens muss es Klarheit und Verbindlichkeit geben. Wir bräuchten daher ein Gesetz, das klar die Funktion und die Anbindung eines Klimabürger*innenrates klärt. Es muss von Anfang an klar sein, was mit den Beschlüssen eines Klimabürger*innenrates passiert. So wäre z.B. eine Stellungnahme der Bundesregierung bis zu einer gewissen Frist notwendig, in der dargestellt wird ob, wie und warum Vorschläge in der Gesetzgebung aufgegriffen wurden oder nicht. Ich plädiere dafür, einen Klimabürger*innenrat auf Bundesebene zum Beginn jeder Legislaturperiode einzusetzen, der innerhalb von drei Monaten ein Bürger*innengutachten erarbeitet. Dieses stellt dann eine zentrale Entscheidungsgrundlage für die Klimapolitik der Bundesregierung in den kommenden vier Jahren dar. Während der Legislaturperiode treffen sich die Mitglieder des Bürger*innenrates jährlich zu einer Evaluation.
Drittens: Vertrauen stiften. Das entsteht aber nur, wenn ein Bürger*innenrat eigenständig, transparent und gut informiert arbeiten kann. Ich bin der Auffassung, dass wir eine Staatsminister*in für Partizipation & Zivilgesellschaft inklusive einer Stabstelle beim Bundeskanzleramt brauchen. Sie ist die zentrale Person, die Verantwortung für mehr Bürger*innenbeteiligung trägt und die für Formate auch eigene Mittel im Bundeshaushalt braucht. So hat bspw. auch der Klimabürger*innenrat in Frankreich Kosten von ca. 5 Mio. Euro verursacht. Ich bin aber auch der Auffassung, dass die Umsetzung von Bürger*innenräten von einer neutralen Stelle außerhalb der Verwaltung übernommen werden muss. So entsteht gar nicht erst der Anschein von politischer Einflussnahme. Ebenso muss es Transparenz über alle Gäste, Referent*innen usw. im Rahmen des Rates geben, vom Wissenschaftler* bis zum Lobbyisten*. Aber es muss auch einen breiten Input geben, von Seiten der Wissenschaft, Verbänden uvm. Nur so können die Bürger*innen zu einer differenzierten Entscheidungsfindung kommen.
Auf geht’s: Mit einem Klima-Bürger*innenrat neue Power für den Klimaschutz entfachen
Schon vor einigen Monaten haben wir im Zuge des Grundsatzprogrammprozesses der GRÜNEN für nationale Bürger*innenräte ausgesprochen.[11] Damit sollen wichtige politische Fragen (die Bewältigung von Corona, sozialer Zusammenhalt aber vor allem auch Klimapolitik) zum Gegenstand einer partizipativeren Demokratie werden. Inzwischen setzen sich auf vielen politischen Ebenen Initiativen für Bürger*innenräte zum Klimaschutz ein; zuletzt auch wieder ganz aktiv Mehr Demokratie e.V..[12]
Wir sollten die Chance nutzen, mit einem Klimabürger*innenrat wieder neuen Drive in die deutsche Klimaschutzpolitik zu bekommen. Und damit auch unserer globalen Verantwortung gerecht zu werden.
[2] http://democracy-international.org/final-propositions-french-citizens-convention-climate
[3] https://fr.boell.org/de/2019/10/01/nach-den-gelbwesten-frankreich-ein-buergerkonvent-fuer-das-klima
[4] https://www.nzz.ch/international/aktuelle-themen/in-irland-deutet-sich-beim-referendum-ein-ja-zur-homo-ehe-an-1.18547924
[5] Letztendlich wurde das auch notwendig, weil sich Bundesregierung nicht getraut hatte mit „Wumms“ hier selbst Vorschläge zu unterbreiten – Kommission hierzu (wie sie Koalitionsvertrag vereinbart wurde) bleibt genauso aus wie die überfällige Wahlrechtsreform.
[6] https://www.buergerrat.de/fileadmin/downloads/buergergutachten.pdf
[7] https://www.buergerrat.de/dokumentation/umfrage/
[8] https://www.buergerrat.de/dokumentation/umfrage/umfrage-highlights/
[9] https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/FAQ/Kohlekommission/faq-kohlekommission.html
[10] https://www.forschungsgruppe.de/Umfragen/Politbarometer/Archiv/Politbarometer_2019/Januar_II_2019/
[11] https://www.gruene.de/artikel/auf-dem-weg-zu-einer-partizipativen-demokratie