Wann sonst? Wir brauchen dringend eine Weiterbildungsoffensive

Die Corona-Krise wirkt wie ein Zeitraffer: Sektoren, die bereits eh in vollem Gange der Transformation sind, werden jetzt noch hart von der Corona-Krise getroffen. Darunter leiden vor allem Arbeitnehmer*innen. Um kurz- und mittelfristig Arbeitsplätze zu sichern, müssen wir jetzt die Weiterbildung vom Kopf auf die Füße stellen.

Die Corona-Krise ist ein Zeitraffer: Gerade erst kamen neue Konjunkturdaten und die Situation in Deutschland sieht nicht sehr rosig aus. -10,1% bricht das BIP preis- und saisonbereinigt ein, die Arbeitslosenquote steigt auf 6,3% und 6,7 Millionen Menschen befinden sich (Stand Mai) in Kurzarbeit.[1] Ein Zeitraffer ist das deswegen, weil die Corona-Krise den Strukturwandel in vielen Branchen vorwegnimmt oder massiv beschleunigt. Die Luftfahrt, die in Form von Lufthansa Milliardenhilfen braucht, um überleben zu können; die Automobilindustrie, die nach langen Diskussion um eine Verbrennerprämie nun eine Innovationsprämie für den Absatz von Hybrid- und Elektrofahrzeugen bekommt, usw. Zeitweise waren z.B. bei Daimler 80% der Mitarbeiter, bei denen es möglich war, in Kurzarbeit, bei Bosch knapp ein Drittel.[2]
Kurzarbeit sei „unser stärkstes Instrument gegen Entlassungen“ hatte Arbeitsminister Heil noch vor einigen Wochen erklärt. Ob das so stimmt, wird sich zeigen.

Corona als Scheideweg: Die prekäre Lage für Arbeitnehmer*innen

In der Tat hat sich die Zunahme der Arbeitslosenquote abgeflacht. Die Frage wird aber sein: Wie viele noch in Kurzarbeit befindliche Personen werden wieder in ihre Arbeitsplätze zurückkehren? Was passiert, wenn eine zweite Corona-Welle den zweiten Lockdown notwendig macht?[3] Die Automobilindustrie, die sich eh gerade im massiven Strukturwandel befindet und nun noch schneller Elektro- und Hybridfahrzeuge produzieren muss oder die Fleischindustrie, deren unwürdige Produktionsbedingungen leider erst im Zuge des Tönnies-Skandals wieder in den Fokus gekommen sind: Die Corona-Krise hat die Notwendigkeit zur Umstellung von Produktionsprozessen nochmal deutlicher gemacht. Gleichzeitig gehen Schätzungen davon aus, dass wir noch deutlich mehr Arbeitslose in diesem Jahr bekommen könnten.[4] Dazu kommt, dass v.a. soziale Gruppen von der Krise stärker betroffen sind, die es eh schon schwer auf dem Arbeitsmarkt haben: z.B. Arbeitnehmer*innen ohne deutschen Pass, ohne abgeschlossene Ausbildung oder Minijober*innen.[5][6] Und Minijobber sind nicht „nur“ primär Schüler*innen oder Studierende: Eine Analyse des DGB hat gezeigt, dass etwa die Hälfte der Personen, die ihr Einkommen primär aus Minijobs beziehen, eine abgeschlossene Ausbildung oder ein abgeschlossenes Studium haben.[7]

Explosive Mischung: Konjunkturkrise und digitale Transformation erhöhen Druck

Die Konjunkturkrise hält aber anderen Entwicklungen nicht per se an. Digitalisierung, technologischer Wandel oder die Nachhaltigkeitswende – alles Entwicklungen, die wir brauchen und die weitergehen. Die Bertelsmann Stiftung hat zusammen mit der Stiftung Neue Verantwortung ein Papier vorgelegt, das Szenarien zur Auswirkungen der Digitalisierung auf die Beschäftigung bis 2030 skizzieren soll.[8] Die Szenarien waren von verschiedenen Faktoren geprägt, z.B. der Geschwindigkeit des Breitbandausbaus, Veränderung von Akzeptanz für Digitalisierung, Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit, wie der Fachkräftemangel aufgefangen wird aber auch der Sozialstaat neu organisiert. Das Ergebnis: Für fünf von sechs Szenarien gehen die Autor*innen davon aus, dass „zumindest für Teile der Bevölkerung mit einer sinkenden Nachfrage nach ihrer Arbeitskraft gerechnet werden [muss]. Dies führt zu einer steigenden Arbeitslosigkeit […].“

Auch eine Expertenbefragung durchgeführt von der TUM Heilbronn und Bertelsmann Stiftung zeigt: 92% der Befragten gehen von einer deutlichen Transformationsbeschleunigung durch Corona aus, z.B. würden digitale Kompetenzen deutlich schneller im Job relevant. Auf der anderen Seite identifizieren die Befragten auch ganz klare Verlierer der Krise: Luftfahrt, Automobilindustrie, Verkehrswesen und Bankenwirtschaft.[9]

Weiterbildungsoffensive jahrelang verpennt

Wenn laut Arbeitsminister Heil Kurzarbeit das beste Instrument gegen kurzfristige Entlassungen in der Konjunkturkrise ist, ist Weiterbildung das beste Instrument gegen mittelfristige.

Es wäre unredlich zu behaupten, dass in den letzten Jahren politisch in Berlin nichts passiert wäre zur Weiterbildung. Ende 2019 wurde mit dem „Qualifizierungschancengesetz“ versucht, Weiterbildung breiter in die Fläche von Erwerbstätigen zu bringen. Künftig übernehmen die Arbeitsagenturen einen Teil der Weiterbildungskosten für die Arbeitgeber, sofern diese dazu dienen auf „Herausforderungen des Arbeitswandels“ zu reagieren. Auch Lohnkostenzuschüsse bei Freistellungen werden gewährt. Dafür fallen für die Bundesarbeitsagentur Kosten im Umfang von ca. 6 Mrd. EUR an.[10] Kein halbes Jahr später hat Heil mit dem sog. „Arbeit-von-morgen-Gesetz“ nachgelegt: Hier wurden Fördersätze nochmal angehoben, die Verfahren vereinfacht usw..[11] Ein großer Teil der Wahrheit ist aber auch, dass in Deutschland in den letzten Jahrzehnten im internationalen Vergleich viel zu wenig von der öffentlichen Hand in Weiterbildung investiert wurde.[12]

Die Arbeitslosenversicherung zur Arbeitsversicherung umbauen

Es braucht jetzt einen ganz grundsätzlichen Paradigmenwechsel für die Zeit in und nach der Pandemie, wenn wir über Arbeitssicherung sprechen. Da reichen auch das Qualifizierungschancengesetz oder Arbeit-von-morgen-Gesetz nicht aus. Wir müssen die Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung ausbauen.[13] Der Fokus muss klar darauf legen, durch Fort- und Weiterbildung überhaupt erst Arbeitslosigkeiten zu verhindern. Und dazu braucht es drei ganz zentrale Bausteine:

  • einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung
  • eine Reform der Arbeitsagenturen hin zu Weiterbildungsagenturen
  • Einführung eines Weiterbildungsgeldes und Weiterbildungs-BAföG

(1) Zentral ist sicherlich der generelle Rechtsanspruch auf Weiterbildung. Bis dato konnte sich die Bundesregierung hierzu nicht durchschlagen. So existiert nur ein Weiterbildungsanspruch für Geringqualifizierte, die bspw. den Berufsabschluss nachholen wollen.[14: Quelle]. Dazu kommen noch in den Bundesländern verschieden geregelte Ansprüche auf Bildungsurlaub, in der Regel ca. fünf Kalendertage pro Jahr. In Sachsen und Bayern gibt es sogar gar keine gesetzliche Regelung.[15] Das ist schlicht zu wenig. Wir müssen die Ansprüche umdrehen: Arbeitgeber müssen eine Weiterbildung einfordern können, wenn keine akuten betrieblichen Gründe dagegen sprechen. Damit wird Weiterbildung Teil des öffentlichen Bildungsauftrags. Damit verbunden muss ein Freistellungsanspruch mit Rückkehrrecht – wie etwa bei der Elternzeit – auf eine Stelle mit gleichem Umfang gegeben werden, ebenso die Möglichkeit zu Teilzeitweiterbildung.

(2) Und das alles braucht Infrastruktur: Wo möglich müssen die Arbeitsagenturen zu (Weiter-)Bildungsagenturen ausgebaut werden. Ich will an dieser Stelle keine Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen aufmachen, aber Robert Habeck hat Recht, wenn er fordert, dass sich die Jobcenter wieder auf ihre Kernaufgabe besinnen müssen: Jobs vermitteln anstatt Sozialleistungen(z.B. ALG II) mit viel Personalaufwand zu verwalten. Derzeit liegen alleine die Verwaltungskosten der Arbeitsagentur schon bei fünf Milliarden Euro.[16] Dort, wo es keine Bildungsagenturen gibt sollen Netzwerke vorhandener Träger der Erwachsenenbildung oder ggf. auch Hochschulen diese Aufgaben übernehmen, um ein flächendeckendes Angebot zu gewährleisten.

(3) Rechtsanspruch und Infrastruktur sind jedoch alles nichts wert, wenn der ökonomische Anreiz nicht vorhanden ist. Es ist paradox: Derzeit ist es teilweise attraktiver eine prekäre Beschäftigung anzunehmen, ggf. den Lohn mit ALG II aufzustocken oder arbeitslos zu sein als eine geförderte Weiterbildung durchzuführen. Gerade in Zeiten von steigender Arbeitslosigkeit und Strukturwandel wäre es fatal, wenn wir dadurch fähige Arbeitnehmer*innen nicht für die passenden Jobs gewinnen oder in prekäre Beschäftigung abdrängen. Die Zeit der Weiterbildung muss daher mit einem Weiterbildungsgeld vergütet werden, das über der Arbeitslosensicherung liegt. Für alle, die keinen Anspruch auf Leistungen aus der Arbeitsversicherung haben, muss es ein Weiterbildungs-BAföG geben. Natürlich ist ökonomischer Anreiz nicht der einzige Faktor sind, warum Personen einen Job annehmen – aber er darf auch nicht kontraproduktiv sein.

Fazit: Mit einem großen Sprung aus der Krise

In den vergangenen zwanzig Jahren wurde nicht nur die Digitalisierung in Deutschland zu stark verpennt, sondern auch eine begleitende Weiterbildungspolitik. Man kann nicht leugnen, dass in den letzten zwei Jahren von Seiten des Bundesarbeitsministeriums durchaus sinnvolle Maßnahmen unternommen wurden. Aber jetzt ist der geeignete Zeitpunkt, den Paradigmenwechsel mit absoluter Höchstgeschwindigkeit anzugehen. Um die Auswirkungen von Corona und den beschleunigten Strukturwandel nicht auch noch zu verschlafen, brauchen wir ein Recht auf Weiterbildung mit allen flankierenden Maßnahmen – und zwar sofort.

Quellen:

[1] https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/konjunktur-kurzarbeit-verhindert-absturz-auf-dem-arbeitsmarkt/26050056.html
[2] https://www.produktion.de/wirtschaft/kurzarbeit-in-autoindustrie-auf-dem-rueckzug-129.html
[3] https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/corona-in-nrw-drosten-warnt-vor-zweiter-welle-a-7d13c6e9-7906-4f30-9cfb-ab401bf2f099
[4] https://www.zeit.de/2020/30/arbeitslosigkeit-corona-krise-prognose
[5] https://www.dgb.de/themen/++co++0a4560ac-8d11-11e5-87e3-52540023ef1a
[5] https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/gesellschaft/id_88282728/arbeitslosigkeit-in-deutschland-bundesarbeitsministerium-aeussert-sich-zu-datenanalyse-.html
[6] https://www.zeit.de/wirtschaft/2020-07/arbeitsmarkt-minijob-coronavirus-beschaeftigung-kurzarbeit
[8] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/auf-dem-weg-zum-arbeitsmarkt
[9] https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/user_upload/Sonderstudie_Corona_Begleittext_final.pdf
[10] http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/049/1904948.pdf
[11] https://www.bmas.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/bundestag-beschliesst-arbeit-von-morgen-gesetz.html
[12] https://www.forschung-und-lehre.de/forschung/deutschland-steckt-wenig-geld-in-weiterbildung-1586/
[13] https://www.gruene-bundestag.de/files/beschluesse/beschluss-weiterbildung.pdf
[14] https://berufsabschluss.net/2020/05/18/rechtsanspruch-fuer-geringqualifizierte-auf-foerderung-einer-beruflichen-nachqualifizierung/
[15] https://www.dgb.de/themen/++co++fe6281e0-b9eb-11e5-a576-52540023ef1a
[16] https://www.gruene.de/artikel/anreiz-statt-sanktionen-bedarfsgerecht-und-bedingungslos

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